Nils Kasper MA

Seit April 2016 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sprache, Literatur und Medien der Europa-Universität Flensburg. In den Jahren 2012 und 2013 Marietta-Blau-Stipendiat des Österreichischen Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung (BMWF) für Forschungsaufenthalte am Hauptstaatsarchiv Stuttgart, der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart, der Universitätsbibliothek Leipzig (Sondersammlung), der Staatsbibliothek Berlin (Sondersammlung) sowie dem Bergarchiv Freiberg/Sa. Im Jahr 2012 assoziiertes Mitglied des PhD-Net Das Wissen der Literatur an der Humboldt-Universität Berlin. Zwischen 2009 und 2012 Promotionsstudent und Stipendiat am Doktoratskolleg Kategorien und Typologien in den Kulturwissenschaften der Karl-Franzens-Universität Graz. Frühjahr 2009 Marbach-Stipendiat für einen Forschungsaufenthalt am Deutschen Literaturarchiv Marbach mit einer Studie über die Textgenese der Prosa Peter Handkes auf der Grundlage der handschriftlichen Reisetagebücher.

 

Aktuelle Forschungsprojekte:

Abb. 1

Kartographisches Schreiben in Wissenschaft und Literatur

Im langen 18. Jahrhundert setzen literarische und naturwissenschaftliche Diskurse noch auf einem breiten Fundament geteilter textuell-handschriftlicher Operationen auf. Dieser Sachverhalt spricht dafür, auch kartographisch induziertes Wissen in Literatur und den Wissenschaften um 1800 als erschriebenes Wissen zu analysieren und auf der Basis geteilter Schreiboperationen aufeinander zu beziehen. Die mit dem Projekt angestrebte Engführung von literatur- und wissenschaftshistorischen Fragen setzt daher an gemeinsamen, schriftbezogenen epistemischen Techniken an und verfolgt am Leitfaden „diagrammatischen Denkens“ (Ch. S. Peirce) die naturwissenschaftlichen und poetologischen Effekte kartographischen Schreibens. Neben den traditionellen Bestimmungen des Zeichens unter Kategorien der Sensibilität und Intelligibilität erschließt der Diagrammbegriff eine dritte Zeichendimension: die Manipulierbarkeit. Unter dieser methodischen Prämisse bildet die schriftbezogene Analyse von handschriftlichen Quellen, Manuskriptkarten und Archivdokumenten einen Schwerpunkt der Studie.

Seit Beginn der Neuzeit formiert sich unter dem Titel ‚Praktische Geometrie‘ ein Wissen von der Kartierung des Festlandes, das mehr ist als lediglich Anwendung euklidischer Lehrsätze auf die empirischen Phänomene des geographischen Raums. Mit den ersten triangulationsbasierten Kartierungsprojekten wird eine außerordentlich erfolgreiche Ökonomie kartographischen Schreibens installiert, die die Praktiken der geodätischen Beobachtung und Messung, der Sammlung von Daten und ihrer Bearbeitung gleichermaßen erfasst. Nimmt man in dieser Weise die Schriftlichkeit von Kartographie ernst, so stellt sich damit zugleich die Frage nach dem Ort, den die Herstellung und Verwendung von Karten in einer Schriftkultur jeweils innerhalb eines gewählten Zeitabschnittes einnehmen.

Das Hauptinteresse des Projekts gilt den Techniken, Materialitäten und Verfahrensordnungen bei der Errichtung, Stabilisierung und Verstetigung kartographischer Referenz. Daraus ergeben sich grundsätzlich zwei Blickrichtungen: Zum einen ist das die Frage nach den „Transformationsketten“ (B. Latour), die über die topographische Landesaufnahme schließlich hin führen zum Kartenbenutzer. Und zum anderen die Frage nach den Operationen und Schlussprozessen, die den Betrachter der fertigen Karte wieder zurück führen zur geographischen ‚Welt‘.

Soweit Struktur und Verfahren schriftlichen Aufzeichnens den gesamten Bereich wissenschaftlicher Arbeit überspannen, sind Schrift und Schreiben bevorzugte Gegenstände einer deskriptiven Epistemologie, die nach den Eigenlogiken und prozeduralen Ordnungen im wissenschaftlichen Forschungsprozess fragt. Unter dieser Perspektive wird sichtbar, dass die neuzeitlichen Wissenschaften einen beträchtlichen Teil ihrer diskursiven Kohärenz nicht nur den verwendeten Methodologien, Objektivitätsnormen oder der Identität ihrer Objekte, sondern in erster Linie den zur Anwendung gebrachten Techniken, Verfahren und Notationsformaten des Aufschreibens verdanken. Das Projekt favorisiert eine praxeologische Sicht auf Kartographie, ergänzt diese aber um weitere Fragen, die auch die kartographisch induzierten Inferenzprozesse mit einbeziehen. Karten können als „erschriebene Denkräume“ (W. Kogge) par excellence gelten. Begreift man nun derartige Denkräume als Diagramme, so lässt sich ganz allgemein danach fragen, welche Folgen sich aus der „Diagrammatisierung des Denkens“ (Ch.S. Peirce) etwa für die Geographie, Geologie, das Militärwesen, den Geographieunterricht in der Schule oder für die Produktion und Rezeption literarischer Texte um 1800 ergeben haben.

In der Perspektive derartiger Fragen rückt an die Stelle der Karte als Manifestation einer symbolischen Ordnung des ‚Kartographischen‘ im Grenzfall die Karte als individueller Gegenstand, dessen Wirkmächtigkeit sich aus den historischen Kontexten seiner Herstellung und Benutzung erhellt. Erst so lassen sich dann auch die epistemischen und poetologischen Effekte, die aus spezifischen Lektürepraktiken hervorgegangen sind, bspw. mit dem notationalen Format einzelner Karten in Beziehung setzen.

 

Abb. 2

Diagrammbasierte epistemische Transfers zwischen Wissenskulturen

In der jüngeren Wissenschaftsforschung hat sich die Einsicht durchgesetzt, wonach man es im Hinblick auf die Organisation wissenschaftlicher Praxis gegenwärtig nicht mehr nur mit „zwei Kulturen“ zu tun hat, von denen C.P. Snow einst ausging, sondern viel eher mit einer Pluralität von Wissenskulturen. Auch der Blick zurück etwa in die Geschichte der Physik, die sich bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in einen mathematischen und einen experimentellen Zweig aufzuspalten begann, bekräftigt den Befund. Folglich ist mit wissenskulturellen Grenzen nicht erst zwischen, sondern auch schon innerhalb einzelner Disziplinen zu rechnen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, mit welchen Mitteln es Wissenskulturen gelingt, über die durch divergente epistemische Tugenden, Denkstile, Objektbereiche und Methodologien aufgeworfenen Grenzen hinweg Kooperationsbeziehungen zu errichten.

Das Interesse dieses Forschungsbereichs richtet sich dabei auf nicht-textbasierte und nicht sprachbezogene Formen epistemischer Transfers. Für die Wissenschaften des 19. Jahrhunderts scheinen in diesem Sinne neben Objekten, Bildern und technischen Apparaten bestimmte Netzdiagramme von zentraler Bedeutung gewesen zu sein. Die Perspektive auf die Wissensgeschichte der Diagrammatik eröffnet hier einen besonderen Reflexionsraum, in dem sich technisch, szientifisch und künstlerisch geprägte Kulturen des Wissens gleichermaßen begegnen können.

Netzdiagramme elektrischer Schaltungen gehören im 19. Jahrhundert etwa gegenüber den Chladni’schen Klangfiguren, den Lissajous-Figuren oder den Kurven, die aus Mareys graphischer Methode hervorgehen, in ein eigenes Register der Sichtbarmachung. Vor allem die Physiologie zeigte sich im Zuge der Experimentalisierung des Lebens ausgesprochen improvisationsfreudig, wenn es darum ging, neue Mess- und Registrierapparate zu entwickeln und sie mit den Präparaten im Labor zu Experimentalanordnungen zu verschalten. Die Neurophysiologie machte ausgiebig von den Möglichkeiten Gebrauch, Nerven- und Leiternetze auf dem Labortisch so in einander zu verweben, dass epistemische Gegenstände wie etwa die Irritabilität von Nervenfasern innerhalb solcher Anordnungen als Netzwerkeffekte Konturen gewinnen konnten.

An Darstellungen derartiger Experimentalanordnungen lässt sich sehr gut nachvollziehen, wie die relationalen Arrangements aus Präparaten, Apparaturen und Messvorrichtungen auf dem Labortisch dann in Gestalt von Netzdiagrammen räumlich modelliert werden und auf diese Weise ihrerseits Prägnanz gewinnen. Die Diagramme nehmen eine Mittelstellung ein zwischen Theorie und Anwendung, zwischen formaler Abstraktion und Experiment. Gegenüber den vernetzten Entitäten bilden sie eine eigene Kategorie von außerordentlich wandlungsfähigen ‚Dingen‘ aus und eröffnen in der Folge dann auch eigenständige Formen epistemischer Transfers.

Ein und dasselbe Diagramm kann in verschiedenen Wissenskulturen dann bspw. als topologisches Problem aufgefasst, als Experimentalanordnung (wiederholt) realisiert, zur Veranschaulichung physikalischer Zusammenhänge benutzt oder als epistemische Technik für die Berechnung und Messung von Größenverhältnissen eingesetzt werden. Und in allen diesen Umgebungen, in die es übertragen und in denen es auf neuartige Weise funktionalisiert und reinterpretiert wird, scheint es jeweils auch eine andere Form von Dinghaftigkeit auszuprägen.

Der Begriff der „Trading Zone“ (P. Galison) erlaubt es, Übertragungsvorgänge zu beschreiben, die sich an den Kontaktzonen zwischen Wissenskulturen abspielen. Solche Transfers sind nicht als Übersetzungen, sondern eher als Tauschprozesse zu verstehen, für die eine weitgehende Entlastung der mobilisierten Diagramme von den jeweils disziplinintern geltenden Interpretationsstandards die Voraussetzung ist. Auf der Seite der beteiligten Akteure ist somit keine vollständige Übereinkunft hinsichtlich der Deutung, sondern lediglich die Bereitschaft zur Kooperation und ein gewisses, nicht immer unproblematisches Vertrauen in die Austauschbarkeit dieser Transferobjekte vorauszusetzen. Dabei scheint ihr integratives Potential darin zu liegen, die kognitive Arbeit verschiedener Wissenschaftler und Praktiker so zusammenführen und die Konzentration bündeln zu können, dass dadurch die Wahrscheinlichkeit steigt, dass sich auch über wissenskulturelle Grenzen hinweg Szenen „geteilter Aufmerksamkeit“ (M. Tomasello) einstellen.

Wie die Wissenschaftsforschung der vergangenen Jahrzehnte gezeigt hat, sind für unterschiedlichste Formen wissenschaftlicher Praxis in erster Linie ihre Räumlichkeit, Materialität und Regelgebundenheit fundamental. Von den Netzdiagrammen, die hier untersucht werden sollen, gilt das in ähnlicher Form. Auch darum scheinen sie sich vor dem skizzierten Problemhorizont in besonderer Weise der historischen Rekonstruktion zu empfehlen. Von Interesse sind dabei Fragen, die auf die Bedingungen, Hindernisse und unmittelbaren Folgen diagrammgestützter epistemischer Transfers zielen. Welchen Veränderungen unterliegen die Diagramme selbst dabei? Und wodurch erklärt sich ihre mitunter erstaunliche Langlebigkeit? Netzdiagramme folgen einer visuellen Ökonomie der Sparsamkeit und sind daher stets auch als Trivialisierung angesichts komplizierterer Sachverhalte und Vorgänge zu begreifen. In der Rückschau verknüpft sich damit auch die Frage, in welchen Konstellationen sie ihrerseits dann wiederum als „Erkenntnishindernis“ (G. Bachelard) gewirkt haben könnten. Der Versuch, anhand von Fallstudien spezifischen Diagrammen bei ihrer Passage durch wechselnde Umgebungen zu folgen, soll zu einem besseren Verständnis der Regularitäten beitragen, nach denen epistemische Transfers sich vollziehen.


Bildnachweise:

Abb.1: (Quelle: HStA Stuttgart, J1 76b)

Abb. 2: Spannungsquelle (P, Z), Rheochord (A, S, B) und präparierte Nervenzelle als Spannungsteiler verschaltet. Die Anordnung wurde zur experimentellen Reizung von Nervenfasern durch elektrischen Strom verwendet. Bei diesem Versuch ging es um den empirischen Nachweis der für die Neurophysiologie grundlegenden Einsicht, dass Nervengewebe nicht auf stetige, sondern nur auf abrupte Spannungsänderungen reagiert. (Quelle: Rosenthal, Isidor: Allgemeine Physiologie der Muskeln und Nerven. Verlag F.A. Brockhaus, Leipzig 1899, S. 141.)